In ihrem 2022 erschienenen Buch «99x einzigartig» zeigt Melinda Blättler ungefilterte Fotografien von Personen mit einem Makel, Tabu-Thema oder einer Krankheit. An der Photo Münsingen stellt sie eine Auswahl davon aus. Mit den Bildern will die Nidwaldner Fotografin Brücken bauen, Schönheit zeigen und Verständnis schaffen.
Melinda Blättler, wie ist die Idee zu deinem Buch entstanden?
Mir fiel auf, dass sich viele Menschen auf Social Media nicht so präsentieren, wie sie eigentlich sind. Mit Filter und Photoshop, mit gemachten Brüsten und aufgespritzten Lippen. Das ärgerte mich, weil Teenies genau diese Personen als Vorbilder nehmen. Eben das sind sie meiner Meinung nach aber nicht, denn offenbar sind sie ja nicht zufrieden mit sich selber. Vermehrt sind auch Kundinnen und Kunden zu mir ins Studio gekommen mit konkreten Wünschen, etwa dass ich ihre Falten wegretuschieren sollte. Wenn ich sie überzeuge, erst mal das Foto zu machen und dann zu entscheiden, sind die meisten mehr als zufrieden. Vor diesem Hintergrund begann ich vor zwei Jahren mit dem Buchprojekt.
Wie hast du geeignete Menschen für das Buch gefunden?
Ich startete einen Aufruf via Social Media, Radio und Fernsehen. Das Echo war gewaltig. Aus den eingegangenen Nachrichten wählte ich so aus, dass im Buch möglichst vielfältige «Makel» abgebildet werden konnten. Darunter sind nicht nur Menschen mit Krankheiten oder Unfallfolgen, sondern etwa auch homosexuelle oder Pärchen mit unterschiedlicher Hautfarbe. Ich suchte nach Menschen, die in irgendeiner Form nicht der Norm entsprechen, auf die andere mit dem Finger zeigen. Im Verlauf des Projekts hatte ich die Idee, gezielt nach einer 99jährigen Person zu suchen, so dass das Buch nun 99 Personen im Alter von wenigen Monaten bis 99 Jahren zeigt.
Wie bist du vorgegangen, um den Menschen die Hemmungen zu nehmen, ihren «Makel» in den Fokus zu rücken?
Zunächst erzählten sie mir in einem Gespräch ihre Geschichte. Durch aufmerksames Zuhören und Beobachten registrierte ich, wo sie beim Erzählen wie reagierten. Entsprechend individuell war dann meine Herangehensweise beim Shooting. Eine Frau, die mir erzählt hatte, sie tanze gern, liess ich erst mal vor der Kamera tanzen, um das Eis zu brechen. Den verunfallten Mann forderte ich auf, die Augen zu schliessen und sich in den Moment des Unfalls zurückzuversetzen. Als er die Augen öffnete, drückte ich ab. Entstanden ist ein sehr intensives Foto. Wenn jemand loslässt und einfach sich selber ist und du das auf dem Foto einfangen kannst, wird das Bild gut.
Wie waren die Reaktionen der Porträtierten auf das Shooting?
Viele sagten, sie hätten sich bei mir sehr wohl gefühlt, bis hin zur Frage, ob ich irgendeinen psychologischen Hintergrund habe. Für einige hatte die Mitarbeit am Projekt durchaus einen gewissen therapeutischen Effekt. Nachdem sie es sich zunächst nicht hatte vorstellen können, fragte mich die übergewichtige Frau am Schluss des Shootings, ob wir denn jetzt nicht noch das Bikini-Foto machen könnten.
Bist du mit den Leuten noch in Kontakt?
Ja, wir haben einen gemeinsamen Chat. Manchmal organisieren wir ein Treffen mit dem Ziel, dass auch die Porträtierten einander kennenlernen und sich austauschen können. Daraus sind Freundschaften entstanden. Einige werden an der Photo Münsingen anwesend sein und von ihren Erfahrungen berichten.
Wie bist du selber mit den oftmals leidvollen Geschichten umgegangen?
Natürlich gingen sie mir nahe, aber das Projekt hat mich auch stärker gemacht, mir einen neuen Blickwinkel eröffnet. Einige der Geschichten, besonders bei psychischen Beeinträchtigungen, begleiteten mich noch ein paar Tage. Durch das Shooting konnte ich das Gehörte aber jeweils auch schon ein Stück weit verarbeiten.
Alle Fotos im Buch sind schwarz-weiss und in deinem Studio aufgenommen. Warum?
Mir war wichtig, dass die Person im Zentrum steht, weder Farben noch der Hintergrund sollten ablenken. Ich wollte klassische Bilder machen. Deswegen sind alle Porträtierten schlicht angezogen und tragen weder Schminke noch Schmuck.
Wie waren die Reaktionen auf das Buch und die Ausstellung letzten Sommer in Stansstad?
Sehr positiv. Bei der Ausstellung, wo auch einige der Porträtierten persönlich ihre Geschichte erzählten, waren die Reaktionen sehr emotional. Auch auf das Buch erhalte ich immer wieder das Feedback, die Bilder unter die Haut gingen und zum Nachdenken anregten. Wenn ich das mit dem Projekt bewirken kann, freut mich das sehr.
Wie optimistisch bist du denn, dass künftig auch gesellschaftlich ein Umdenken stattfinden wird?
In letzter Zeit beobachte ich, dass sich Social-Media-Stars vermehrt ungeschminkt und ohne Filter präsentieren. Wenn ich so etwas oder themenbezogene Beiträge sehe, poste ich das auf meinen Kanälen, damit diese Themen präsent bleiben. Ich denke, es tut sich was, aber so schnell wird sich das Denken in der Gesellschaft leider nicht verändern.
Interview: Raffael von Niederhäusern
Melinda Blättler an der Photo Münsingen 2023: